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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Andreas Kemper/ Heike Weinbach:

Klassismus
Eine Einführung

Die erste deutschsprachige Einführung in Buchform über den Klassismusbegriff.


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Alle paar Jahre und zeitlich abgestimmt zu geplanten Gesetzesänderungen entstehen scheinbar aus dem Nichts Debatten über ‚Sozialschmarotzer‘ oder ‚Verwahrlosungen‘ in ‚der Unterschicht‘. Schnell ist die Rede von SozialhilfempfängerInnen, die den ganzen Tag nur „Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hinein stopfen“ (Oswald Metzger). Besonders prägnant ist die Äußerung des FDP-Politikers Daniel Bahr, der 2005 meinte, in Deutschland bekämen die Falschen Kinder (gemeint waren die ‚sozial Schwachen‘). Es ließen sich unzählige weitere solche Zitate von „Klassen-Rassismus“ (Bourdieu) finden. Solcherlei Vorurteile auf Stammtisch-Niveau entfalten jedoch besonders dann ihre ganze Wirkkraft, wenn sie mit Hilfe eines Machtzugriffs zur Unterdrückung werden. Genau diesen Machtzugriff nutzte die große Koalition, als sie das Elterngeld einführten, das vor allem finanziell besser gestellten Personen das Kinderkriegen erleichtern soll. Diese Art von Diskriminierung aufgrund einer Klassenzugehörigkeit hat jedoch weit mehr Facetten. Deshalb empfiehlt sich die Benutzung eines anderen politischen Begriffs. Im englischsprachigen Raum taucht seit den 1970er Jahren vermehrt der Begriff „classism“ auf. Erstmalig erschien jetzt beim UNRAST-Verlag eine Einführung zum Thema „Klassismus“ in deutscher Sprache.

Die AutorInnen Andreas Kemper und Heike Weinbach führen zunächst in den oft missverstandenen Begriff ein. Klassismus hat weder etwas mit Klassizismus noch damit zu tun, eine mögliche Überbetonung von Klassenunterschieden zu kritisieren. Es soll Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund eines tatsächlichen oder zugeschriebenen Status‘ bezeichnet werden. Ähnlich wie bei Rassismus, Sexismus oder Heterosexismus geht es nicht allein um die „ökonomische Stellung im Produktionsprozess, sondern immer auch um Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene.“ (S. 13) Diskriminierung müsse demnach auf all diesen Ebenen überwunden werden, da sich alle wechselseitig bedingen. Damit erteilen Antiklassismus-TheoretikerInnen vielen AnhängerInnen der Hauptwiderspruchthesen eine Absage, die meist die Auseinandersetzung auf der ökonomischen Ebene fokussieren. Schon in den 1970er wurde Klassismus nicht isoliert wahrgenommen oder anderen Diskriminierungsformen gegenüber ein Vorrang zugesprochen, sondern insbesondere die Zusammenhänge von ‚sex‘ und ‚class‘ diskutiert. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Lesben-Gruppe ‚The Furies‘ zu nennen, die laut den AutorInnen erstmals den Begriff ‚classism‘ verwendeten.

Nach der scharf skizzierten Einführung in die Geschichte und Bedeutung des Begriffs, werden – etwas sperrig – verschiedene US-amerikanische Theorien, historische Widerstandskulturen und Verbindungen zur Psychoanalyse vorgestellt. Konkreter und anschaulicher ist die Betrachtung der Unterdrückungsform Klassismus im Lichte aktueller „umstrittener Felder“ im letzten und ausführlichsten Teil des Buchs. Klassismus in öffentlichen Diskussionen wird demnach bspw. in den Themenfeldern Bildung, Arbeit, Zusammenleben sichtbar. Debatten über die ‚sexuelle Verwahrlosung der Unterschicht‘ oder ‚arbeitsscheue‘ HartzIV-EmpfängerInnen, die sich nur ein bequemes Leben machen wollen, belegen klassistische Diskurse. Besonders deutlich wird der hiesige Klassismus im Bildungsbereich. Nicht nur die Definitionsmacht über die Bildungskultur seitens der ‚bürgerlichen Mittelklasse‘, sondern auch die ‚Bildungsschwellen‘ haben diskriminierende Wirkung. Egal, ob es um die Frage geht, ab wann ein Kind „reif“ für die Einschulung ist, welche Schulformempfehlung es erhält, ob und wo es dann eventuell einen Ausbildungsplatz bekommt oder studieren kann, überall warten ‚Gatekeeper‘ (TorwächterInnen).

Ziel einer wissenschaftlichen – und sich im deutschsprachigen Raum noch in den Kinderschuhen befindenden – Befassung mit Klassismus ist laut Kemper und Weinbach die Solidarisierung aller, die Diskriminierung erfahren haben. Damit kann eine klassenübergreifende Zusammenarbeit für einen differenzierten und sensiblen Umgang mit Unterdrückungsmechanismen entstehen. Denn wenn „Ausgrenzung und Diskriminierung nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können, wenn sich Menschen aus verschiedenen Klassen verbünden, dann erstarkt die neue politische Bewegung. Dies wird die Gesellschaft auf dem Weg zur Klassenlosigkeit zutiefst humanisieren.“ (S. 176)

In dem vorliegenden Buch wird übersichtlich in zumeist klarer Sprache der Versuch unternommen, die Lücke im deutschsprachigen Raum auf diesem Gebiet zu schließen. Dies ist durchaus sinnvoll, wird doch vermehrt von den Herrschenden behauptet, es gebe in dieser Gesellschaft eigentlich keine Klassen und alle hätten doch theoretisch die gleichen Chancen. Bei dem notwendigen Fingerzeig auf die vielfältigen Mechanismen von Unterdrückung fern von der ökonomischen Seite besteht jedoch die Gefahr, diese gänzlich zu ignorieren. Denn in einer Gesellschaft, die sich von Grund auf in Klassen gliedert, ist der Klassismus direkt mit dem wirtschaftlichen System verbunden.

RezensentIn: Sebastian Friedrich

Erschienen bei UNRAST-Verlag 2009, 13,00 Euro. Sie können dieses Buch bei Amazon bestellen.


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