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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Jacques Derrida:

Schurken
Zwei Essays über die Vernunft

Der französische Philosoph Jacques Derrida fragt nach dem Recht des Stärkeren und stellt fest: alle Staaten sind Schurken




Der im Jahr 2004 verstorbene französische Philosophieprofessor Jacques Derrida hat nun, wo er nicht mehr ist - (ist er das?) - sein Vermächtnis auch als Taschenbuch vorgelegt: Zwei Essays über die Vernunft, die aus Vorträgen hervorgegangen sind, die, wie bei ihm üblich, trotz der Unzulänglichkeiten des gesprochenen Wortes, ihren essayistischen Charakter immer beibehalten. Er stellt sich die Frage nach dem Recht des Stärkeren (gibt es Schurkenstaaten?) und gibt trotz der Komplexität das Themas erstaunlich einfache Antworten: Alle Staaten sind Schurken, der Staat an sich ist schurkisch. Seine Souveränität leitet sich davon ab, wie der Nazi-Ideologe Carl Schmitt es formulierte, >>als denjenigen, der das Recht hat, das Recht zu suspendieren<<. Seit jenem ominösen 11. September und der angeblichen >>Globalisierung<< stellen sich die Fragen des internationalen Rechts, der Rolle der Vereinten Nationen, vor allem aber was aus dieser allmächtigen Institution wird, die man als Sicherheitsrat bezeichnet.

Doch zunächst bewertet der Autor Vernunft und Unvernunft in den Werken von Heidegger, Kant, Platon und Jean-Luc Nancy, sowie das >>ohrenbetäubende Schweigen über Spinozza<<. Chomskys Arbeiten zu Schurkenstaaten werden ebenso gewürdigt wie die von Bachelard, Foucault oder Lacan. Wie so oft in seinen Werken, hält er allerdings auch diesmal über gemeinsames und trennendes nicht hinter dem Berg: Der Unterschied der Dekonstruktion Derridas zur Destruktion Heideggers etwa, die Logozentristisch angelegt sei. Derrida begibt sich nicht auf die Holzwege von Todtnauberg, wie ihm Kritiker vorgeworfen haben, er versucht im Gegenteil den Schwarzwälder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Seine Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit, als Fug, Verfügung, schlug er bereits in Marx‘ Gespenster (1993) vor, dem Un-Fug zuzuordnen. Auch die Probleme der Demokratie, wie wir sie kennen, werden ausführlich diskutiert. Etwa der Hinweis auf die Tatsache, dass sowohl der deutsche Nationalsozialismus als auch der Faschismus in Italien aus freien Wahlen hervorgegangen waren.

Nun aber bekommt der Vortrag fast schon selbstreflexive, autobiographische Züge. Zügellosigkeit und Freiheit nennt sich das Kapitel, welches die Charakteristiken des schurkischen behandelt. Ganz schön gerissen, fast wie der Autor selbst, wie er anmerkt (ebenfalls ein Seitenhieb auf seine Kritiker, die ihn der Scharlatanerie bezichtigten). Aber auch der ausschweifende, liederliche Lebenswandel, die Verführung, Libertinage. Natürlich, das andere, des Heterogenen, Verschiedenen, die différance! Auf Abwegen in der Banlieue etwa: >>Heute lungert der Schurke im Auto auf den Straßen und auf dem Straßennetz herum, wenn er sie, die Autos natürlich, nicht gerade klaut oder anzündet<< (S. 96). Für einen Vortrag von 2002 erstaunlich aktuell. Jacques Derrida muß man lesen wie man moderne Malerei interpretiert, oder Freejazz hört, Ornette Coleman etwa, oder Glenn Gould. Doch in welcher >>kommenden Sprache<<, welcher Grammatologie ? Nach welchen Regeln der Unbedingten Gastfreundschaft? Fragen die den Philosophen sein ganzes Leben beschäftigten.

Einer der es wissen muß, hat seine Darstellungsform einmal als >>in der Schwebe haltend<< bezeichnet. Das mag sein, keiner aber hat mehr polarisiert wie er, man erinnere nur an seine Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Sprechakt-Theoretiker Searle (den heute keiner mehr kennt), in die sich natürlich auch der FAZ-Methusalem Frank Schirrmacher 1988 einmischte (vergl.: Limited Inc., Wien 2001).

Ein liebenswerter, aber gelegentlich auch äusserst mißtrauischer Jacques Derrida, der seit den ´80er Jahre auf Einladung jährlich Kolloquien und Vorlesungen an amerikanischen Universitäten abhielt, unter dem bezeichnenden Pseudonym >>A.D. White, Professor-at-large<<, was so viel wie auf freiem Fuß, aber auch in Freiheit bedeuten kann.

RezensentIn: Adi Quarti

Erschienen bei Suhrkamp 2006, 10,00 Euro.


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