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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Luciano Canfora:

Eine kurze Geschichte der Demokratie
Von Athen bis zur Europäischen Union

Canfora liefert sowohl eine Geschichte der Verwendung des Begriffs "Demokratie" als auch eine ausführliche Darstellung der gesellschaftlichen Umstände, die es bis jetzt verhindert haben, dass Demokratie ihrem Begriff voll gerecht wurde




Das Buch Canforas’ stellt zwei Fragen: Wie schaffen es immer wieder die wenigen Mächtigen die vielen Stimmberechtigten trotz Demokratie unten zu halten? Und die komplementäre: Wie ist es zu erklären, dass immer wieder die Vielen immer wieder gegen ihre längerfristigen Interessen Leuten zur Macht verhalfen oder sie an der Macht hielten, obwohl sie doch in einer Demokratie lebten?

Canfora, gelernter Altphilologe der Universität Bari, setzt mit seinen Fragen bei Perikles, dem langjährigen Staatsmann und Staatsführer der Arhener, ein. Dieser eignet sich schon deshalb, weil in einer der Fassungen der EU-Verfassung ein Satz als Motto gewählt wurde aus der Grabrede für die ersten gefallenen Athener im peloponnesischen Krieg, die der Geschichtsschreiber Thukydides ihn halten lässt. Der Satz lautet: ”Mit Namen heißt unsere Verfassung, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die große Zahl gestellt ist: Volksherrschaft”(Demokratie). Als Philologe geht Canforas der Sache nach und zitiert vollständig nach Thukydides: ”Der Name, mit dem wir unsere Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie. Weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden... Jedoch in den privaten Streitigkeiten haben alle das gleiche Gewicht, und in den privaten Angelegenheiten herrscht Freiheit” (16).

Und akribisch entfaltet Canfora aus dem Kontext, dass Freiheit als Gegensatz zu Demokratie gebraucht wird, ganz im Gegensatz zur landläufigen Auffassung. Und daraus entfaltet Canfora das Problem der Herrschaftsform. Demokratie ist überall in Griechenland hervorgegangen aus der Heeresversammlung, also auf waffenfähige freie Männer beschränkt. Während die Spartiaten an der Kampfform der Schwerbewaffneten (Hopliten) festhielten und sich vor allem auf dem Land als unschlagbar erwiesen, brauchte Athens Seemacht vor allem viele Ruderer - musste also den Bereich der Stimmberechtigten ausdehnen. Was nicht bedeuten durfte, dass jeder - bei relativ gleichem Stimmrecht - auch wirklich gleichen Einfluss auf die Staatsgeschäfte hatte. Canfora zeigt, wie die entscheidenden Posten gewissen Familien immer wieder zukamen - dass Demokratie dann bedeutete: Mitglieder der Führungschicht sind bereit, auf die in Athen und anderen “demokratischen” Städten übliche Weise die Massen der Stimmbürger zu lenken und sich ihrer Wahl zu stellen. Materiell wird die Bindung der Massen an die Führer möglich durch eine Frühform des Imperialismus. So und so viele Städte werden in den attischen Seebund genötigt: von dessen Abgaben für den gemeinsamen Schatz werden zum Beispiel die zwei Obolus gezahlt für Teilnahme an der Volksversammlung oder später auch für den Theaterbesuch.

Von hier aus der kühne Bogenwurf über zweieinhalbe Jahrtausende weg. Die letzten Sätze des Buches lauten: “Die wackeren Mitglieder der Konstituante in Strasbourg erarbeiteten eine Art Hausordnung für das Heim, das die Privilegierten dieser Welt bewohnen. Während sie meinten, der Verweis auf Perikles’ Totenrede sei eine rein rhetorische Übung, taten sie - ohne es zu wissen - den richtigen Griff. Denn Perikles verwendet den Begriff Demokratie mit großem Unbehagen und setzt alles auf die Freiheit. Ohne es zu wissen, haben sie sich auf den nobelsten Begriff berufen, der sich überhaupt finden lässt, wenn etwas gesagt werden soll, was nicht nur erbauliche Rhetorik darstellt, sondern tatsächlich gesagt werden muss: dass nämlich in den reichen Ländern die Freiheit gesiegt hat - mit all den schrecklichen Folgen, die das für die anderen mit sich bringt und noch bringen wird. Die Demokratie ist auf andere Epochen verschoben und wird von anderen Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht nicht mehr von Europäern” (S.357).

Kein Wunder, dass das Buch großes Missfallen erregt hat bei allen, die die herrschenden Formen der Regulierung und Abstimmung für den Endpunkt einer Entwicklung halten, die zum Besten des Menschen nie mehr überholt werden kann und wird. Nur in Deutschland allerdings ging die Entrüstung soweit, dass der Verlag Beck, der das Werk schon - unzulänglich - hatte übersetzen lassen, lieber Geld opferte, als es herauszugeben. Es ist jetzt beim Papyrossa-Verlag erschienen (Details siehe Besprechung: Das Auge des Zeus). Es kann sich nicht nur um die paar monierten Fehlformulierungen und Falschübersetzungen handeln, die von den Lektoren moniert wurden. Wie Fülberth in der Vorrede von “Auge des Zeus” Fachkundigen mit Recht ins Gedächtnis ruft, gehören solche Mängelrügen zum täglichen Brot des Bücherschreibers und werden normalerweise stillschweigend in der Korrespondenz zwischen Lektor und Autor bereinigt. Den Unzufriedenen missfiel wohl vor allem die Kälte und Härte, mit der in der Darstellung der neuesten Ereignisse - seit 1914 - mit der Präzision eines Thukydides die Handlungen des faschistischen Deutschland, der westlichen Demokratien und Stalins als solche dargestellt werden, wie sie in demokratisch verfassten Staaten eben üblich und unerlässlich sind. Auf die EU-Verfassung selbst geht Canfora dabei nur noch am Rande ein. Die Volksabstimmungen, die in zwei Staaten schon zu ihrer Ablehnung führten, sind dann bloß als Pannen zu betrachten gegenüber den Praktiken gewiefterer “Demokratien” wie der unsern nach 1949, in der die wichtigsten Dinge stets ohne Abstimmung durchgesetzt wurden.

Canfora führt es nicht allgemein aus, sondern lässt es aus den einzelnen gewählten Beispielen hervorgehen, dass eine ihrem Begriff entsprechende Demokratie Verfügung über Produktionsmittel, Produktion und Handel miteinschließen müsste. Sonst träte immer wieder der Umstand auf, dass die in die Vertretungskörperschaften Gewählten sich nicht mehr dem Wählerwillen, sondern dem “Sachzwang” verantwortlich wüssten. Sachzwang - Canfora verwendet das Wort nicht - ist dann einfach ein Pseudonym für Funktionsanforderungen der die Wirtschaft Bestimmenden an den Staat.

Eigentümlich und manchmal schwer zu lesen ist das Buch, weil es nicht so vorgeht, wie viele marxistisch inspirierte Werke, die die These vom Imperialismus voraussetzen und diese dann an einzelnen Beispielen illustrieren. Canfora entwickelt aus zeitgenössischen Zitaten (vor allem für die Zeit nach der französischen Revolution) die Probleme der damals Handelnden und Lebenden. Er zeigt an einem Zitat, wie gerade Lobpreiser der Demokratie das Problem der “Regierbarkeit der Menge” aufwerfen, aber offenbar nur durch massenhaften Einsatz von Keuschwörtern und Hüllbegriffen “lösen”. Nicht lösen. Begriffsgeschichte des Worts “Demokratie” wird bei Canfora eigentlich Politikgeschichte, nämlich Beschreibung der Art, wie bestimmte Begriffe und Argumentationen zur Erreichung gewisser politischer Ziele eingesetzt werden, und, sobald massenhaft akzeptiert, zur realen Gewalt werden. Aufsehen erregte vor allem die Darstellung der UDSSR unter Stalin. So wird der Strategie-Wechsel Stalins 1939 über den Nichtangriffspakt mit Hitler ausdrücklich nicht als “taktischer” sondern als “strategischer” Umschwung bezeichnet. Dieser Sprachgebrauch wird in der Kontroverse mit den Kritikern bewusst aufrechterhalten.

Nicht ganz klar wird, warum das so wichtig sein soll, weil - strategisch oder taktisch - doch eines sich nachträglich als unbestreitbar herausgestellt hat. Stalins Kalkül war falsch. Genau wie Trotzki, der von Canfora dafür getadelt wird, hielt er sich schematisch an Lenins Interpretation des imperialistischen Krieges von 1914 - und glaubte, Neutralität gegenüber allen imperialistischen Mächten werde am Schluss dem vereinigten Proletariat - zumindest Europas - zum Sieg verhelfen. Dabei unterschätzte er taktisch die deutsche Kampfkraft und die Möglichkeit ihres schnellen Siegs über Frankreich. Bei besserer Voraussicht wäre ein Bündnis mit England und Frankreich- trotz deren zunächst ablehnender Haltung- vielleicht doch möglich gewesen, als ihnen das Messer an der Gurgel saß. Nicht ganz verständlich ist auch die Einschätzung der Moskauer Prozesse. Canfora führt mit Recht aus, dass in einem Staat wie der nachleninistischen UDSSR Ideologie- das System der leitenden und zusammenhaltenden Gedanken- materielle Bedeutung gewinne. Nach der Austreibung Trotzkis sei ein innerer Bürgerkrieg entstanden, der auch in Form der Prozesse ausgefochten worden sei. Zustimmend wird de Gasperi zitiert: Amerikanische Quellen hätten bestätigt,dass die “..Saboteure zwar keine gemeinen Betrüger waren, aber alte idealistische Verschwörer, die lieber den Tod auf sich nahmen als sich dem zu fügen, was ihnen als Verrat am Kommunismus in seiner ursprünglichen Form erschien” (S.338). Wie wäre in dieser Sicht aber das Geständnis Verhörter zu verstehen, sie hätten sich im Hotel Bristol in Kopenhagen mit Trotzki getroffen, das es zur Zeit des angeblichen Treffens schon lange nicht mehr gab. Die Prozesse waren offenbar Fabriken zur Erzeugung von Geständnissen, um den Schein größter Übereinstimmung zu erzeugen, eben über die widerstrebenden Lippen der Geständigen. ”Den Tod auf sich nehmen” - gut! Aber das Geständnis eines Bucharin zum Beispiel legt keineswegs Zeugnis ab für einen ursprünglichen Zustand des Kommunismus, sondern dem Wortlaut nach gerade für Stalin, der diesen Ursprung als einziger rein bewahrt und in die Gegenwart gerettet habe.

An dieser Stelle offenbart sich eine gewisse Unschlüssigkeit, Undeutlichkeit dieser großen Geschichte des Kampfs der Ideen. Am Ende bleiben trotz allem die Gedanken hier unter sich, berühren an keiner Stelle den Zusammenhang mit dem sterblichen, quälbaren Leib. Wie wenn die Folter die größten Gedanken zu Fall bringen könnte? Diese Rücksicht auf den hungernden frierenden Körper könnte dann am Ende erklären, wieso unter all den Formen nichtdemokratischer Demokratie am Ende den westlichen Mächten von vielen der Vorzug gegeben wurde. Sie töteten, versklavten, unterwarfen wie alle anderen Staaten - aber sie gewährten für kurze Zeit doch mehr Wärme und Sättigung als andere es vermochten. Dass das keinen ideellen Vorzug des Westens ausmacht, hat Canfora unwiderlegbar bewiesen. Nur stellte es zeitweise einen schwer abweisbaren materiellen dar. Dieser Vorzug schwindet allerdings sichtlich in unserer Gegenwart. Unter der Zahl derer, die heute den Irak bewohnen, werden sicher nur wenige behaupten, sie lebten heute besser als vor dem Erscheinen der westlichen Befreier und Wohltäter.

RezensentIn: Fritz Güde

Erschienen bei PapyRossa Verlag 2006, 24,90 Euro.


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