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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Richard Corell/ Ronald Koch:

Papst ohne Heiligenschein?
Joseph Ratzinger in seiner Zeit und Geschichte

Der Werdegang des jetzigen Papstes Benedikt XVI. (ehemals Kardinal Ratzinger) und die Wandlungen des Protagonisten werden als Variationen des Immergleichen analysiert




Protestanten, Calvinisten, Muslime, Ungläubige und Gleichgültige hatten sich zusammen mit den Katholiken lautstark und intensiv wochenlang zu freuen, dass ”wir” Papst geworden sind. Es muss sich um die selben ”wir” gehandelt haben, die fast Weltmeister wurden, die um den Standort kämpfen, die sich der demographischen Entwicklung zu stellen haben. Mit einem Wort die Menge der Atomisierten bekam die Chance einer Maske, um doch auch einmal den Schein eines Gesichts zu erhalten.

Wer der war und ist, in dessen müder Gestalt wir uns selbst erblicken sollten, ehemals Kardinal Ratzinger, jetzt Benedikt XVI, schildert in allen Einzelheiten das Sammelwerk "Papst ohne Heiligenschein" unter der Autorschaft von Richard Corell und Ronald Koch, zusammengetragen von vielen Katholiken und Nichtkatholiken aus aller Welt.

Um gleich auf die Namenswahl des Pontifex zu kommen: Er selbst scheint sich bezogen zu haben auf Benedikt XV und dessen Friedensbemühungen im Ersten Weltkrieg. Wie das Buch nachweist, richteten diese sich stark auf die Erhaltung der damals - noch - katholischen Monarchie Österreich und auch damals schon um eine gelockerte Hegemonie über den Balkan, wie sie EU und Nato inzwischen in strengerer Form errichtet haben. Im Buch werden weitere Spekulationen angestellt über andere Benedikte, die als Vorbild in Frage kämen. Wie - wenn Ratzinger einfach an den allerersten gedacht hätte - Benedikt von Nursia, kein Papst, aber Gründer des Musterordens der katholischen Kirche an sich, dessen der Benediktiner. Nach der überlieferten Kirchengeschichte war die Ordensgründung Antwort der organisierten Kirche gegenüber dem um sich greifenden Einsiedlertum in den Wüsten. Während das einsame Gottsuchertum ohne jeden menschlichen Kontakt zwangsweise eine Tendenz zu Ekstase und unkontrollierbarer Verzückung entwickelten, eigenmächtiger Vision und weltflüchtiger Lehre, setzte Benedikt dem sein Ordnungs-und Gemeinschaftsideal entgegen. Mit "Bete und Arbeite" machte er die Tendenzen, die sich gegen den römischen und byzantinischen Staat gerichtet hatten, wieder dienstbar dem Gemeinwesen. Wer es auch regieren mochte, Hauptsache, es war Regierbarkeit vorhanden.

Diese Haltung nämlich bestimmt Kardinal Ratzinger innerhalb der katholischen Kirche vollkommen, wie das Buch sie nacherzählt und nachzieht. Es sollte mitten in den Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts und des darauf folgenden vor allem die Kirche als Organisation aufrecht erhalten werden, als Macht, die fähig war, sich aufeinander folgenden Regierungsformen anzupassen, selbst anzudienen, wenn nur die geistige und geistliche Autorität "an sich" aufrechterhalten blieb, bei allen notwendig werdenden Zugeständnissen im Einzelnen. Besonderer Wert wird von den Autoren auf das Vorbild des Kardinals Faulhaber gelegt. Nicht nur, weil der kleine Ratz begierig dessen Purpur anstarrte, als er einmal durch das Heimatdorf kam - vor allem, weil Faulhaber, im Herzen vielleicht aufrechter Monarchist Wittelsbacher Observanz, der Weimarer Republik sich maßvoll entgegenstellte, dem Dritten Reich vor allem wegen seiner antikommunistischen Ausrichtung diente, als es mit dem zu Ende ging, im Sternenbanner sofort die neue Gewalt gegen den Kommunismus verehrte. Diese Haltung hat Ratzinger vollkommen verinnerlicht.

In dem Sammelwerk wird diese Haltung als "irrational" gekennzeichnet. Mit Recht, wenn es bedeuten soll, dass wie im Katholizismus überhaupt eine Grundentscheidung allen Glaubensüberlegungen zugrunde liegt - zugrunde gelegt wird - die nicht weiter mit Gründen und allerlei Hin und Her, Pro und Contra diskutiert werden kann und darf. Das typisch Katholische freilich - im Gegensatz etwa zu den Glaubensrichtungen der Pietisten und Methodisten - besteht dann im Versuch, auf dem Grund der gesetzten Basis der Offenbarung nach Möglichkeit ein Denkgebäude zu errichten, das sich aller rationalen Techniken der Zeit bedient. So schon Thomas von Aquin, der mit den Mitteln des Aristoteles das Geheimnis der Verwandlung eines Stückes Brot in Fleisch und Blut Christi auf der Basis der Substanzenlehre in der damals wissenschaftlichen Sprache ausdrückte. Nicht erklärte.

Von dieser Tendenz her ist auch die Regensburger Rede des ehemaligen Theologie-Professors Ratzinger zu verstehen. Ganz zu Unrecht hat der SPIEGEL vor ein paar Wochen das hineingenommene Zitat gegen die Lehre des Propheten Mohammed als Zeugnis von Schussligkeit und Weltfremdheit angesehen. Der Angriff auf den Islam passt völlig in die neue antitotalitäre Ausrichtung der Westregierungen, war Ratzinger aber keineswegs die Hauptsache. Ihm ging es vor allem darum, den Glauben als etwas zu retten, das unabhängig sich erhält vom Körper und aller materiellen Gewalt. Denn zielstrebig richtet sich die Rede dann auf den griechischen Anteil des Christentums: Herrschaft des LOGOS - verstanden als Durchsetzung der von Eingeweihten beherrschten und gewussten Vernunft. Was Ratzinger in seiner Regensburger Rede völlig vernachlässigt, ist die jüdische Tradition im Neuen Testament. Die Geschichten vom gefallenen, gebrochenen, in sich selbst versinkenden Menschen. Der Petrus, der nach stolzester Beteuerung der Treue den Herrn dreimal verriet, ist Ratzinger fremd. Er kennt ihn als den Apostelfürsten, den Gründer der auf ein Oberhaupt autoritär fixierten Kirche, seinen Ur-Ur-Vorgänger.

Im Buch wird ausführlich die Annäherung an die Organisation OPUS DEI geschildert. Dabei wird den künftigen Papst sicher am wenigsten angezogen haben die Neigung zu körperlicher Selbstzüchtigung und allerlei Sonderbrimborium im Kopf, wie es Roman und Film SAKRILEG genüsslich ausgemalt und bekannt gemacht haben. Fasziniert hat Ratzinger sehr wahrscheinlich die straffe Organisation, das Unterwanderungsprinzip, die Wissenschaftsorganisation, betrieben durch eigene Universitäten und Seminare. Was im 16. Jahrhundert die Jesuiten begonnen hatten, die Moderne mit den Mitteln der Moderne zu überwinden, das versucht OPUS DEI noch einmal, freilich ganz ohne den Glanz des Barock, den die Jesuiten nach Kräften unterstützten, und vor allem ohne die trotz allem erbrachten wissenschaftlichen Produktionen der Jesuiten. Geblieben ist beim OPUS DEI nur noch das Skelett der Organisation an sich, der Kunst, sich unter allen Umständen durchzusetzen.

Genau darauf kam es Ratzinger vor allem an in den langen Jahren als Vorsitzender der congregatio fidei, Nachfolgeorganisation des Amtes der heiligen Inquisition. Was er vor allem bekämpfte, war die Bewegung der "Theologie der Befreiung". Diese, zum Beispiel von der FAZ damals erbittert bekämpft, ist inzwischen aus der Erinnerung fast verdrängt worden. Aus dem Rückblick ist es vielleicht das Gerechteste, was sich über die Bewegung nachträglich sagen lässt, dass sie sich der Sprache der katholischen Religion eben als einer Sprache bediente, in der die Auffordung zur Erhebung gegen erniedrigende Verhältnisse sich am leichtesten und am weitesten verbreiten ließ.

Corell/Kochs Buch enthält dankenswerterweise vollständig die Denkschrift zur ”Theologie der Befreiung”, treffsicher ”Instruktion” betitelt. Sie legte den Grund zur disziplinarischen Verfolgung eines Lionardo Boff und seiner Schüler. Erschütternd dabei, dass es dem Vorsitzenden der Kongregation in keinem Punkt darum zu tun ist, wie seinerzeit den Jesuiten, einen Gegenentwurf zu entwickeln. Durch Kombination einiger Sätze des Neuen Testaments und überlieferter kirchlicher Aussagen bleibt es bei der Verurteilung der Selbstbefreiung. Im Kern steht - in Kapitel IX - die Ablehnung eines klassenkämpferischen Wahrheitsbegriffs, der zum Handeln dränge und nur dem sich eröffne, der ”parteilich” an der Bewegung zur Aufhebung der bestehenden Verhältnisse teilnehme. Mitgedacht der Gegensatz zur ”offenbarten Wahrheit”, die über allen steht und einfach besessen und ausgesagt wird, ganz ohne Kampf. Ausdrücklich werden alle verurteilt, die ”messianisch” das ”Reich Gottes” auf dieser Welt errichten wollten, weil sie es dann in eine irdische Ordnung aufgehen ließen: es bliebe nichts Jenseitiges mehr.

Dass die bestehende Kirche als Kirche dann aufgefordert wird, nach Kräften ungerechte Verhälntisse zu bekämpfen, bleibt ohne Handlungsanweisung der gottwohlgefällige Schnörkel, der zu solchen Verlautbarungen gehört. Was Ratzinger im Gewissen auch bewegt haben mag und womit er sich selbst rechtfertigte, kein Zweifel kann daran bestehen, dass er mit seiner Bekämpfung der ganzen Bewegung Hand in Hand arbeitete mit der westlichen, vor allem nordamerikanischen

Bekämpfung sämtlicher revolutionärer Bewegungen in der Region - bis hin zur Erschießung des Erzbischofs Romero am eigenen Altar. Bei diesen Aktionen hat sich Ratzinger sicher den Ruf des prowestlichen Vorkämpfers erworben, der ihn nach dem Tod seines betont antikommunistischen Vorgängers Woytila sicher den herrschenden Mächten genehm gemacht hat. Beziehungsweise, um nicht zu plump verschwörungstheoretisch zu reden, es den Machtüberlegungen der wählenden Kardinäle nahe legte, einen Papst dieses Kalibers auszugucken.

Es ist nicht sicher, ob er hauptsächlich als Anti-Islamist auftreten wird. Es ist sicher manchen aufgefallen, dass der vorige und der jetzige Papst sich im Vergleich zu anderen Mächten bei der Diffamierung der Palästinenser zurückhielten, vermutlich in Rücksicht auf die arabischen Christen, gerade auch derer in Bethlehem, die nicht in Gegensatz zur Gesamtbewegung gebracht werden sollten. Ebenso wird Benedikts Absicht, sich mit den verschiedenen Ostkirchen besser zu stellen - bei diesen sogar partiell auf die Ehelosigkeit der Priester zu verzichten, wie jetzt schon gegenüber der griechisch-unierten Kirche - ihm Vorsicht nahe legen gegenüber allzu offenen Parteinahmen für künftige Irak- und Irankriege der westlichen Welt.

Ratzinger war wohl nicht immer so ausschließlich Vertreter der autoritär durchzusetzenden kirchlichen Vernunft. Zum Konzil wurde er als ”peritus” - eine Art Sachverständiger - herangezogen von Kardinal Frings und gab sich gemäßigt reformfroh. Was waren das für Zeiten! Welche Erwartungen! Der damalige Religionslehrer des Verfassers Corell, mein damaliger Kollege in Wertheim, tollte durchs Schulhaus und schrie ohne Unterlass: ”Gerade jetzt nach dem Konzil!" - Alles schien möglich. Pfarrhaushälterinnen machten sich Hoffnung, Kirche von unten erhob auch in Deutschland ihr Haupt. Was ist geblieben? Vor die großen Hochaltäre in den Münstern schob sich ein Tisch, an dem der Priester der Gemeinde zugewandt den Dienst versieht. Die Kommunion wird in beiderlei Gestalt, also als Brot und Wein, gereicht. Die alten Kirchenlieder aus Kindertagen mit ihrem Schleppgesang sind ersetzt durch macherlei Trällerfroh - aber: am Obrigkeitsprinzip wurde nirgendwo gerüttelt.

Wenn Kardinal Meisner jetzt unter Kollegenbeifall gemeinsames Gebet in Kindergarten und Schule verbietet zwischen Muslimen und kleinen Christen, dann ist der letzte Rest von Öffnungsabsichten weggekratzt. Ratzinger hat diese Wandlungen mitbetrieben, nie offen hetzerisch, aber immer vorne mit dabei.

Ein Vorzug des Buches im Vergleich mit früheren Veröffentlichungen kommunistischer und linker Gruppen zu Fragen des Glaubens und der Kirche: es werden keineswegs die einzelnen Katholikinnen und Katholiken wegen ihres Glaubens angegriffen. Wenn ich es recht sehe, über den unbestreitbaren Grundsatz Lenins hinaus, es sei ein Verbrechen, während eines Streiks mit den Kollegen wegen der Unsterblichkeit der Seele sich zu verkrachen, statt die Posten am Werkstor zu organisieren. Das bleibt im besten Sinn Toleranz. Hinzu tritt in Corells Buch ein neuer positiv gefasster Gedanke. So wird bei der Erwähnung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds der Entwicklung Ratzingers immer wieder an katholische Gläubige und auch Priester erinnert, die sich in Gottesdiensten und auch außerhalb mutig den Zumutungen der Nazis widersetzten und damit zumindest die Aufrechterhaltung eines Vorbehalts gegen die Absolutheitsanspruche des Nationalsozialismus verteidigten. (In Ratzingers Erinnerungen spielen gerade die keinerlei Rolle.)

Solschenizyn hat in seinen besseren Jahren einmal gestaunt, dass so viele Christen sich unbeugsam erwiesen gegenüber staatlicher Bedrückung bis hin zur Folter, Kommunisten gegenüber den verschiedenen Faschismen ebenfalls, aber dass dieselben Kommunisten - ein Bucharin etwa - zusammenbrachen vor der eigenen Regierung in der Stalinzeit. Hat Bucharin zu schnell das augenblickliche Gericht der gerade Herrschenden für das Weltgericht gehalten, das letzgültige, über das nicht hinauszudenken wäre? Für Christen gab es immer noch eine Berufungsinstanz. Es mag daran gelegen haben, dass im Christentum sich die Erkenntnis immer wieder einmal durchsetzte der Vorläufigkeit aller irdischen Ordnungen, dass jedes irdische Gericht überholt werden kann durch den letzten Richtspruch am jüngsten Tag. Dieser letzte Einspruch gegen staatliche Anmaßung bleibt auch dem zugänglich,der vom christlichen Glauben nur eines behalten hat: dass, wenn es Gott geben sollte, wir über sein Urteil nicht das geringste wissen können. Wenn es ihn nicht gibt, kann an seine Stelle auch kein vorbestimmtes Schicksal, kein automatisierter Weltplan gelten. Damit bleibt Zukunft stets offen.

Dieser Offenheit widerstreitet eine Richtung des Marxismus, die deterministisch, wie man es nennt, den Lauf der Welt als gesetzlich festgelegt ansieht. Aber vor allem auch die Katholische Kirche mit ihrem Wissensanspruch, ihrer Festlegungsmanie am schärfsten. ”Gottes Wege sind unerforschlich” wird fromm gesagt von denen, die zugleich den Anspruch erheben, die Wegweiser dafür aufzustellen. Ratzinger als Papst Benedikt verkörpert gerade diese Richtung am unbeirrtesten.

Corell und Koch haben mit ihren vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in größter Eile ein Werk geschaffen, das sich nicht zufrieden gibt mit dem eingebürgerten ”Links-liegen-Lassen” kirchlicher Dinge. Es erkennt die gewaltige Macht der katholischen Lehre als unmittelbar wirksame Ideologie, als Einübungstechnik der Unterwerfung unter die übliche ”westliche Ausrichtung.” Wäre auch die Koordination der verschiedenen Beiträge aus aller Welt in einer sehr zu wünschenden neuen Auflage noch zu verbessern, insgesamt sind hier Kenntnisse zu erwerben, die anderswo mühsam zusammengetragen werden müssten.

PS: Hubertus Mynarek fügt in seinem Vorwort den vielen Vorwürfen gegen den Papst noch eine hinzu: seine Vorliebe für den Verzehr von Kapaunen, der besonders verwerflich sein soll wegen der grausamen Art der Kastration der zur Beförderung prädestinierten Hähnchen. Mein Problem: Ist die Kastration anderer Tiere weniger schmerzhaft und anstößig? Wenn die Kapaunengier Benedikts größte Sünde wäre - wer wollte ihm da nicht verzeihen?

RezensentIn: Fritz Güde

Erschienen bei Zambon Verlag 2006, 15,00 Euro.


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